Demokratie in Europa:Die Potenz der Populisten

Zähe Kompromisse, langwierige Debatten, kaum noch unterscheidbare Parteien: Moderne Demokratie ist kompliziert, und sie ist oft sehr langsam. Das frustriert die Bürger - und ebnet Populisten den Weg.

Armin Nassehi

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Daneben arbeitet der 51-Jährige als Redner und Berater für Unternehmen und Kultureinrichtungen.

Populisten erobern Nordeuropa

Gegen Europa, gegen Migranten, gegen die etablierten Parteien: Timo Soini und seine Partei, die "Wahren Finnen", sind das jüngste Beispiel für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa.

(Foto: dpa)

Die Wahren Finnen - dieser Name trifft sehr gut, was populistische Parteien und Bewegungen umtreibt: Sie wollen Gesellschaften als Schicksalsgemeinschaften darstellen. Dies ist eine merkwürdig moderne und antimoderne Haltung zugleich.

Antimodern ist sie darin, dass sie nicht mit dem Pluralismus einer modernen Gesellschaft zurechtkommt. Modern ist sie darin, dass das Modell europäischer Nationalstaaten spätestens seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts darauf gesetzt hat, eine Solidarität unter Fremden zu stiften, die wie eine Schicksalsgemeinschaft aussah. Dass die Bewohner europäischer Nationalstaaten ihre unveräußerlichen Rechte als Menschen in Gestalt veräußerlicher Rechte als Bürger eines konkreten Staates genossen, gehört zu den bis heute nicht geheilten Wunden des Modernisierungsprozesses.

In diese offene Wunde streut der politische Populismus sein Salz. Allerdings muss man vorsichtig sein - populistische Bewegungen sind pluralistischer, als es zunächst den Anschein hat. Während Le Pens Front National oder Pia Kjærsgaards Dansk Folkeparti traditionell nationalistisch-konservative Positionen vertreten, kann man etwa Geert Wilders in den Niederlanden oder auch der belgischen Nieuw-Vlaamse Alliantie von Bart De Wever weltoffene und liberale Positionen nicht absprechen.

Was populistische Bewegungen gemeinsam haben, ist dreierlei: Sie bauen insbesondere Einwanderung und ihre Folgen als grundlegendes Problem der Gesellschaft auf, sie sind weitgehend europaskeptisch, und sie bringen komplexe gesellschaftliche Probleme auf leicht verständliche und kommunizierbare Nenner.

Diese Welt ist in der Tat komplizierter geworden - vor allem seit sich der Traum von wachsender Prosperität und steigendem Lebensstandard nicht mehr träumen lässt. Konkurrenten um knappe Ressourcen und Lebenschancen werden aber immer schwieriger benennbar. Der Konkurrent wird abstrakt und unsichtbar. Er ist im Wettbewerb um Ausbildung, Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, sogar um intime Zuneigung und soziale Anerkennung letztlich nur noch eine statistisch wahrnehmbare Größe, ein Konglomerat ähnlicher Merkmale.

Damit werden auch Verantwortliche und Schuldige immer weniger adressierbar und identifizierbar, und gesellschaftliche Konflikte lassen sich dann auch nicht mehr einfach auf die sichtbare und benennbare Dichotomie von Kapital und Arbeit oder von konservativ und fortschrittlich bringen. Auch deshalb sind die politischen Parteien als Repräsentanten der ehemalig stabilen Milieus in ihrer Ähnlichkeit konturenlos geworden.

Einfache Lösungen für komplizierte Probleme

Die Ressourcen Sichtbarkeit und Benennbarkeit sind also knapp geworden - und werden dafür von populistischen Bewegungen umso erfolgreicher angeboten. Populistische Parteien bieten einfache Lösungen für komplizierte Probleme und können deshalb deutlich sagen, was zu tun sei. Und sie können sich gerade deshalb als Bewegungen darstellen, die gegen den Mainstream gerichtet sind. Der Mainstream - das sind die üblichen, langsamen politischen Verfahren.

Die Demokratie ist ein großer Langsamkeitsgenerator. Sie baut Unterbrechungen und Kompromisse in Entscheidungsverfahren ein. Populistische Lösungen können sich dagegen als die wahre Demokratie ausgeben, weil sie die schnelle Umsetzbarkeit von Volks- und Wählerwillen suggerieren können. Sie stellen jene Sichtbarkeit her, die der Mainstream nicht mehr anbieten kann.

Der Sog des populistischen Arguments

Auf eine subtile Weise sichtbar sind Migranten, vor allem Migranten aus außereuropäischen Regionen. An ihnen kann eine schwierige Welt einfach erklärt werden. Sie bieten sich für die Simulation schneller Lösungen an, sie können durch ihre Sichtbarkeit unsichtbar machen, wie plural und multikulturell, wie kompliziert und undurchschaubar, wie unübersichtlich und wie sozial ungleich ein Land auch ohne Einwanderer wäre.

Auch wenn in Deutschland bis heute keine populistische Partei Fuß fassen konnte - die Popularität von Thilo Sarrazins Thesen über die angebliche Selbstabschaffung Deutschlands zeugt davon, wie erfolgreich Vereinfachungen auch hierzulande sein können.

Die besondere Potenz populistischer Bewegungen besteht darin, dass sie auf eine elementare Weise wirklich Politik machen. Der Politik wird üblicherweise die Funktion zugeschrieben, für Entscheidungen zu sorgen, die für alle gelten und denen auch jene loyal folgen, die sie so nicht gewollt haben. Diese Entschärfung von politischen Konflikten ist das große Potential dieses westlichen Politikmodells. Vergessen wird dabei aber manchmal, dass Politik nicht nur in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen liegt, sondern auch in der Herstellung von Gemeinschaften, die sich an sich selbst binden. Die "Erfindung" der europäischen Nationen im 19. Jahrhundert war deshalb eine eminent politische Tat.

Sobald die Welt unübersichtlicher wird und Entscheidungen unplausibel werden, weil sich ja doch nichts ändert, gewinnt der Aspekt der Gemeinschaft an Bedeutung - wer dazu gehört, wer nicht, welche Gruppen zum volkswirtschaftlichen Gewinn beitragen, welche nicht. Aus Sachproblemen werden dann Probleme der Zugehörigkeit. All das lässt sich schnell kommunizieren, und es lässt sich an konkreten Personengruppen und Lebensformen vorführen: am muslimischen Migranten.

Die Demokratie als Langsamkeitsgenerator

Der politische Populismus vergiftet Sachdebatten dadurch, dass man nicht mehr über Herausforderungen verhandeln kann, ohne in den Sog des populistischen Arguments hineinzugeraten. Gerade die Konzentration auf das Migrationsproblem verhindert dann seine Lösung als Sachproblem. Denn darum geht es gar nicht mehr.

Eine besondere Qualität übrigens bringen die Wahren Finnen in die Debatte. Sie sind nicht nur skeptisch gegenüber Migranten und gegenüber Europa. Sie kämpfen auch leidenschaftlich gegen den "pseudokünstlerischen Postmodernismus" in der Kunst. Das bringt das ganze Problem sehr schön auf den Begriff, denn die Kunst macht sichtbar, dass es für nichts einfache und alternativlose Lösungen geben kann; sie fügt der Realität immer noch eine weitere Möglichkeit hinzu.

Worum es dem Populismus geht, wird an dieser Kunstfeindschaft auf eine brisante Weise deutlich. Hier scheint sich eine antidemokratische Internationale weit über Europa hinaus zu formieren. Wo ist eigentlich Ai Weiwei?

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